• Mit dem Angriff der Hamas auf israelischen Zivilisten am 7. Oktober ist der Nahost-Konflikt eskaliert und Frieden in der Region in weite Ferne gerückt. Foto: Unsplash

Nahost-Konflikt

Wie der Krieg das Leben eines Gewerkschafters verändert

Histadrut Leumit, ein Dachverband für Gewerkschaften in Israel, ist Partnerorganisation der dbb jugend. Ein Israeli, der vor Kurzem in Deutschland war, schildert seine Situation.

„Es ist sehr komplex“, sagt Ehoud Manor, den alle nur Udi nennen. Diesen Satz wird er während des Gesprächs, das per Videocall stattfindet, oft wiederholen.

Und in der Tat, die Situation ist zum Zeitpunkt des Interviews alles andere als einfach: Raketen fliegen aus dem Gazastreifen und dem Libanon auf Israel. Die Hamas hat weiterhin mehr als 200 Geiseln in ihrer Gewalt. Der Schock über das terroristische Massaker vom 7. Oktober sitzt tief. Im Gazastreifen läuft die Bodenoffensive des israelischen Militärs. Die Hamas nutzt zivile Einrichtungen für militärische Zwecke. Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist katastrophal. Tausende Zivilisten sind gestorben. Israelis und Palästinenser sehen sich in ihrer Existenz bedroht.

Täglich kommen neue Schreckensmeldungen aus Nahost. Das Ziel, in der Region nachhaltigen Frieden zu schaffen, scheint in weite Ferne gerückt.

Israelische Delegation war im September in Berlin

Udi – Familienvater, 48 Jahre alt, markante Brille mit schwarzer Fassung – arbeitet für Histadrut Leumit, eine gewerkschaftliche Dachorganisation in Israel. Mit ihr pflegt die dbb jugend einen regen Austausch. Seit 2009 besuchen sich die beiden Organisationen gegenseitig, im jährlichen Wechsel. Zuletzt waren Udi und junge Gewerkschafter*innen aus Israel im September in Deutschland. Unter anderem stand ein Besuch im Haus der Wannsee-Konferenz auf dem Programm – der Ort, an dem die Nationalsozialisten den Holocaust planten. Nur wenige Wochen nach Abreise der Delegation überfielen Hamas-Terroristen Israel und ermordeten mehr als 1.300 Menschen. Laut Bundeszentrale für politische Bildung wurden seit dem Holocaust an keinem Tag mehr Juden getötet als am 7. Oktober.

„Seitdem ist nichts mehr wie es war, alles hat sich verändert“, sagt Udi. „Der 7. Oktober ist für Israel das, was für die USA der 11. September ist.“

Der Gewerkschafter und seine Familie leben in einer kleinen Ortschaft, etwa zehn Minuten mit dem Auto von Tel Aviv entfernt. Seine Frau ist Lehrerin, sein ältester Sohn ist erwachsen und absolviert einen Freiwilligendienst, seine 15-jährige Tochter und der zehnjährige Sohn gehen noch in die Schule. Das Büro der Gewerkschaft befindet sich in Modi’in, zwischen Jerusalem und Tel Aviv. Udi ist vor dem Krieg viel unterwegs gewesen und hat Mitgliedsorganisationen besucht. „Wir vertreten die Interessen von Arbeitnehmenden in Krankenhäusern, Banken und Fabriken, quasi aus allen Bereichen“, erzählt er. „In unserer Organisation sind Juden, Araber und Christen vereint.“

Wenn die Raketen kommen

Für die israelische Gesellschaft gehörte die Bedrohung durch die Hamas auch vor der Eskalation zum Alltag, stets diffus im Hintergrund. Aktuell ist sie konkreter denn je.

 „Es kann sein, dass ich plötzlich in den Bunker muss“, sagt Udi gleich zu Beginn des Gesprächs. Der Iron Dome, das Abwehrsystem, fängt viele Raketen ab, doch einige gelangen ans Ziel, richten Schaden an und töten. Sobald die Sirenen heulen, spielen sich auf Israels Straßen turbulente Szenen ab. Im Auto zu bleiben, ist lebensgefährlich. Deshalb fahren alle an die Seite, verlassen ihre Fahrzeuge, legen sich auf den Boden und reißen die Hände schützend über den Kopf. „In dieser Position ist das Risiko am geringsten, dass man verletzt oder getötet wird“, erklärt Udi. Er selbst hat die Situation schon oft miterlebt. „Das ist hier Normalität. Wir sind ständig unter Strom.“

Was sich darüber hinaus verändert hat? Udis Kinder gehen nur noch zwei bis drei Tage in die Schule, denn der Platz im Bunker reicht nicht für alle Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler. Die Schule möchte kein Risiko eingehen. Nun wird in kleineren Gruppen unterrichtet.

Auch die Arbeit der Gewerkschaft hat sich verändert. Udi muss sich neuen, dringenden Aufgaben widmen: Seit Kriegsausbruch fehlen im Agrarsektor zahlreiche Arbeitskräfte, viele kamen aus dem Gazastreifen. Histadrut spricht von 50.000 Menschen. „Wir organisieren Freiwillige, die unter anderem bei der Ernte von Tomaten und Orangen helfen“ – es gehe darum, die Lebensmittelproduktion in Kriegszeiten sicherzustellen.

Nicht zuletzt ist die israelische Gesellschaft wieder näher zusammengerückt. „Ich denke, dass wir wegen der Justizreform kurz vor einem Bürgerkrieg standen“, sagt der 48-Jährige. Inzwischen sei der Konflikt kein Thema mehr. „Das ist, wenn man so will, ein Lichtblick in der Gesamtsituation.“

Alle kennen Geiseln oder Opfer der Hamas

Der Schock in der israelischen Gesellschaft nach dem Hamas-Angriff sitzt tief. „Diese Brutalität, dieses Ausmaß hat niemand erwartet“, sagt Udi. Am Tag des Interviews ziehen Angehörige und Freunde von den Geiseln durchs Land. Sie sind in Tel Aviv gestartet, haben sich dort zum Protestmarsch formiert und laufen nach Jerusalem, um vor dem Büro von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu demonstrieren. Insgesamt werden sie etwa 70 Kilometer zurücklegen.

„Alle kennen jemanden, der bei der Attacke getötet oder verschleppt wurde, wir sind ein kleines Land“, betont Udi. Unter den Geiseln befinden sich auch Freunde seiner Eltern; er kennt sie, seit er ein kleiner Junge war. Der Mann ist 80 Jahre alt, die Frau 79. „Sie ist auf eine Sauerstoffmaske angewiesen. Wir wissen nicht, ob die beiden noch leben.“

Und in der Gewerkschaft hat er mit einem Arbeiter gesprochen, der auf dem Festival war, das die Hamas attackierte. „Er hat es irgendwie geschafft, sich zu retten. Aber seine Freunde sind tot.“

„Niemand will Zivilisten töten“

Unter anderem UN-Generalsekretär António Guterres hat Israel vorgeworfen, gegen das humanitäre Völkerrecht zu verstoßen. International gibt es Stimmen, welche die Verhältnismäßigkeit der israelischen Militärschläge infrage stellen. Und die humanitäre Lage im Gazastreifen ist laut Hilfsorganisationen katastrophal und spitzt sich weiter zu. Der UN-Sicherheitsrat hat am 15. November eine Resolution verabschiedet, in der er eine humanitäre Feuerpause fordert.

Darauf angesprochen, antwortet Udi: „Wir wollen in Frieden leben und nicht im Krieg. Aber wir müssen handeln, weil unsere Existenz auf dem Spiel steht. Niemand will unbeteiligte Zivilisten töten, aber die Hamas nutzt sie als menschliche Schutzschilde. Sie nutzt zivile Infrastruktur für den Krieg. Was ist die Alternative? Nichts tun? Wir müssen unser Land verteidigen und dabei so menschlich wie möglich vorgehen.“

Und dann fügt er hinzu: „Es ist sehr komplex.“

 

Text: Christoph Dierking